Wir sind so durch den Wind

Das große Hupen

Ach ja, es ist ja heutzutage völlig egal, ob ein Fußball-Spielchen in der Vorrunde gewonnen wurde oder ob eine Nationalmannschaft das immer noch nicht sehr nah an der Weltmeisterschaft liegende Achtelfinale meistert: ein ziemlich großer Teil der Bevölkerung verschwendet Benzin, hupt und grölt zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Ich weiß jetzt nicht, ob ich ein Hochsensibler bin; ich kann nur sagen, dass ich auf jeden Fall lärmempfindlich bin. Mich stören: grundlos kläffende Köter, überlaut tobende Blagen und, nicht zuletzt, sich völlig asozial benehmende Fußballfans.

Den Kindern sehe ich den Krach noch am ehesten nach; sie sind halt Kinder, und die sollen sich möglichst frei artikulieren dürfen, und da bleibt es nun mal nicht immer ganz leise.

Aber erwachsene Menschen, die wegen Nichtigkeiten – Sportereignisse sind Nichtigkeiten, politische Ereignisse hingegen nicht – völlig ausflippen und sich in erheblichem Maße daneben benehmen, die gehören eigentlich – ja, wohin? Ich will das mal lieber offen lassen und an dieser Stelle nicht sagen, was ich denke.

Andreas, jung gestorben

Heute vor ich weiß nicht, wie vielen Jahren ist ein Freund von mir gestorben, ziemlich jung, Mitte zwanzig oder so, an einer damals unheilbaren, seltenen Stoffwechselerkrankung.

Meine und seine Mutter hatten in der Entbindungsstation nebeneinander gelegen, und Andreas war zwei Tage später als ich geboren worden, am 23. Juni 1961. Man kann also sagen, dass ich ihn seit seiner Geburt kannte. Da unsere Mütter sich angefreundet und nach der Entlassung aus der Klinik den Kontakt zu einander gehalten hatten, habe ich natürlich einen Großteil meiner Kindheit und Jugend mit Andreas verbracht.

Er lernte als junger Mann Automechaniker und reparierte mir gelegentlich mein Auto. Seine Mutter, »Tante Lilo«, mutmaßte nach seinem Tod, ich wäre nur mit ihm befreundet gewesen, weil er meine Gurkenautos in Stand hielt. Aber das stimmt nicht. Ich wäre auch mit ihm befreundet gewesen, wenn er … wenn er halt nichts für mich umsonst gemacht hätte. Schließlich düsten wir viel in der Gegend rum, immer mit der damals angesagten Musik im Auto, also The Sweet, T. Rex, Uriah Heep und so was, machten Pizzerien unsicher und hingen in Jugendcafés herum.

Automobil

Keine Ahnung, ob wir noch befreundet wären, würde er noch leben. Keine Ahnung, wie sein Leben verlaufen wäre – ob er eine Frau geheiratet und Kinder gekriegt hätte. Ob er sich immer noch für Autos interessieren würde. Und ob ich ihm mal eine Website gebaut hätte. Für umsonst, versteht sich. Keine Ahnung. Ich spüre nur gerade, dass ich verdammt traurig bin.

Freistoß-Filet

Egal, was für ein Fest, Sportereignis oder Feiertag mehr oder weniger kurz bevorsteht: Industrie und Handel machen immer ein Riesenbohei darum.

Jetzt zur Fußball-Europameisterschaft dreht sich natürlich im Lebensmittelhandel alles um – na, den Fußball. Knabbergebäck in Anmutung eines Miniatur-Fußballs, Produktverpackungen in den deutschen Nationalfarben, Produktbezeichnungen, die mit Begriffen rund um den Ballsport spielen – es ist einfach alles »verfußballt«, wie ich es mal nennen möchte. So wie ab Ende August, spätestens Anfang September alles »verweihnachtet« wird. Grauenvoll. Aber der Schwachsinn vor Weihnachten ist nichts gegen den Schwachsinn bei einem Sportereignis.

Mein Negativ-Favorit ist bislang das Freistoß-Filet – auf der Verpackung, wie könnte es anders sein, als zwei getrennte Wörter ohne Bindestrich auf zwei Zeilen geschrieben. Jedenfalls: das klingt doch schon so richtig schön nach Pornografie oder Prostitution, also sexistisch, ausbeuterisch und frauenverachtend. In der stilisierten Sonnenbrille habe ich eigentlich eher einen lamellenartigen Büstenhalter gesehen.

Freistoß-Filet

Herzlichen Glückwunsch, liebe Hersteller dieses wahrscheinlich aus übelster Massentierhaltung stammenden Fleischproduktes: Ihr habt es in meine Kategorie Prügel vom Windmühlenflügel geschafft.

Vermumpelung

Was ist eine Vermumpelung? Nun, wenn man vermummt ist, aber nicht völlig. Sozusagen humpelhaft verkleidet oder stümperhaft verklumpelt oder was auch immer. So wie dieser finstere Mann auf dem Bild, der just heute sechzig Jahre alt zu werden glaubt:

Vermumpelung

Eine ziemlich zwielichtige Figur; vielleicht auch einfach nur ein Whistleblower, ein Subversiver, ein Prophet, der Angst vor den Geheimdiensten dieser Welt haben muss; wir wissen es nicht so genau. Wir sollten aber Menschen, die wir nicht kennen, nicht gleich aufgrund ihres Erscheinungsbildes verurteilen. Andererseits auch nicht sofort über den Klee loben. Wie sagt einer meiner Kollegen immer: »Leben und leben lassen.« Was natürlich gerade noch so als Schwachsinn durchgeht.

17. Juni

Irgendwie schade, dass der 17. Juni kein Feiertag mehr ist, aber immerhin ist er noch ein Gedenktag. Was war passiert am 17. Juni 1953? Nun, die Bürger in der noch jungen DDR waren unzufrieden mit den politischen Zuständen. Sie wünschten sich freie Wahlen und die Wiedervereinigung beider Teile Deutschlands; außerdem bemängelten sie etliche Missstände, die das Leben beeinträchtigten. Viele Bürgerinnen und Bürger demonstrierten in über 700 Orten und mussten erleben, dass diese Demos vom SED-Regime mithilfe russischer Panzer kurzerhand brutal niedergeschlagen wurden.

Mein Vater ist an diesem Volksaufstand dabei gewesen. Er ist nicht körperlich zu Schaden gekommen, aber er musste fortan berufliche Nachteile in Kauf nehmen. Einige Jahre später, und zwar 1957, also lange vor dem Mauerbau, ist er in die Bundesrepublik übergesiedelt. Als er Arbeit und eine Wohnung gefunden hatte, kam meine Mutter nach.

Und ganz ehrlich, das war gut so; ich hätte nicht in der DDR aufwachsen wollen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das politische System weder mit Sozialismus noch Demokratie viel zu tun hatte. Man konnte ja nicht frei seine Meinung sagen, falls die mit den Ideen der SED irgendwie nicht so ganz übereinstimmte.

Und heute, da unsere Bundesregierung das Infektionsschutzgesetz zur Anwendung kommen lässt, um die Bevölkerung so gut es geht vor einer ziemlich gefährlichen Krankheit zu schützen, heute schreien irgendwelche Querköppe gleich »Diktatur, Diktatur«? Also, von Panzern oder einem sonstigen militärischen Aufgebot bei Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen habe ich jedenfalls noch nichts gehört. Hier darf man eben demonstrieren, für oder gegen was auch immer. Und dass man das darf, das ist nicht gerade ein Merkmal einer Diktatur.